[third level] 04.11.02
Die Phasen des Lebens
Ich möchte das Leben in vier Phasen einteilen:
- Entdecken
- Lernen
- Liefern
- Weitergeben
Seien das die Phasen auf der Ebene der Interaktion zwischen dem Individuum und seiner Umwelt.
Dieser Text ist Ausdruck einer Idee, welche mir persönlich hilft,
beobachtete Zusammenhänge einzuordnen und einzuschätzen. Auf der anderen
Seite hilft sie mir beim entscheiden, beim planen, beim tun. Ich kann daraus auch Werte und Verhaltensregeln ableiten.
Diese Idee entspringt der Aggregation von Beobachtungen von Menschen und meiner eigenen Entwicklung.
Ich versuche, folgenden Fragen nachzugehen:
- Wie definiere ich jede Phase zeitlich und inhaltlich?
- Was bedeutet sie für diejenige, die sie gerade durchlebt?
- Was für das Umfeld, die Mitmenschen?
- Was ziehe ich aus all dem für Konsequenzen, für mich selbst und für meinen Umgang mit anderen?
Es ist zwar hier durchwegs die Rede von "Leben", aber die geneigte Leserin
mag verstehen, dass "Leben" in grossen Teilen dieser Abhandlung durch "Projekt",
"Beziehung", "Prozess" oder "Tag" ersetzt werden kann.
Die erste Phase: Das Entdecken
Unter der Annahme, dass das Leben mit der Geburt beginnt, fängt hier
auch die erste Phase an. Und dauert bis in die ersten Schuljahre.
Wenn man die Entwicklung des Gehirns bei der Geburt mit derjenigen des
gleichen Lebewesens im ausgewachsenen Zustand vergleicht, so ist diese beim
Menschen am wenigsten fortgeschritten. Das klingt zwar
wie unterbelichtet, ist aber genau eines der Erfolgsrezepte unserer Spezies:
wir haben im aktiv und direkt beeinflussbaren Leben die Möglichkeit,
unsere Gehirnstruktur mitzugestalten (resp. die unserer Kinder...). Was sich
später im Umgang mit dem Ernst der Welt niederschlägt. Der Mensch
kommt also sozusagen blank zur Welt und hat dann vom ersten Tag an Unmengen
an "Selbstverständlichkeiten" als solche in seine Hirnrinde einzuprägen.
Was ist das für Licht, das da durch die beiden Löcher in meinen
Kopf reinströmt? Wie kann ich diese manövrieren, um sogar Tiefe
wahrzunehmen? Mit welchen Aktivitäten bewege ich meinen Zeigefinger?
Wie kriege ich diese grossen Kugeln auf Schultern zum lieb-sein zu mir? Wie
kann ich auch so ulkige Geräusche produzieren wie sie? Wo blitzt es,
wenn die mich streicheln? Was fühlt sich wie an, wenn ich meine Hände
drandrücke? Wenn ich es in den Mund nehme? Wie komme ich am schnellsten
vorwärts? Wie reagieren die andern, wenn ich was sage? Zuhause? In
der Schule?
Die Zeit also, wo am allermeisten angelegt werden muss für das ganze
Leben. Je vielfältiger die Eindrücke, desto zusammenhängender
das spätere Weltbild - falls die Eindrücke sich auch logisch
und harmonisch aufeinander abgestimmt präsentieren!
Für diejenige, die auf die Welt kommt, ist alles und jedes kleinste
neue eine Riesenaufregung. Spannend, reizvoll und anspruchsvoll. Es ist auch
in dieser Phase, wo der Liebesbegriff entsteht. Liebe ist das, was sie von
ihren Eltern - oder denjenigen, welche diese Rolle inne haben - an Zuneigung
und Geborgenheit bekommt.
In dieser Phase sollen so wenige Aktivitäten wie nur möglich verboten sein. Was
sie jetzt aufnimmt, werden nicht Gewohnheiten, sondern es wird Verständnis.
Enthalte ich ihr also in dieser Phase relevantes vor, wird sie Schaden nehmen,
wird sie eine "Bildungslücke" haben.
Wie gesagt gehört zum Umgang mit ihr in dieser Zeit speziell viel
Zuneigung, Aufmerksamkeit, Zeit und Nachsicht. Es ist auch kein Zufall, dass
die Evolution die Babys - wie auch Jungtiere - so zum schreien süss
gestaltet hat, dass man nur noch Augen für sie hat und ihnen alles verzeiht.
Wichtig auch, dass ich diese Phase bis in den Schulanfang ziehe. Denn
da kommen auch noch die ersten ernsthaften gesellschaftlichen Erfahrungen
dazu. Auch da ist wichtig, dass die Schule noch nicht aus strikten Regeln
und Paragraphen und Massenabfertigung besteht.
Zum Schluss möchte ich noch in diese Phase hineinpacken, dass auch
die ersten Verhaltensweisen und Lebensregeln jetzt zu entdecken sind. Und
am besten sind die an Vorbildern und Beispielen zu beobachten. So lernt der
Mensch, und so funktionieren neuronale Strukturen. Strafe und Belohnung von
aussen sind Abstraktionen, die erst begriffen werden müssen, und zwar
meiner Vermutung nach erst langsam in der nächsten Phase:
Die zweite Phase: Das Lernen
Sie löst die erste nach den ersten Schuljahren ab und reicht bis
ungefähr zu ersten regulären Vollzeitanstellung. Bei manchen hört
sie vielleicht schön früher auf, bei anderen dauert
sie ein bisschen länger.
Es geht hier darum, so viel wie möglich zu lernen, sich so viele
Werkzeuge wie möglich in den Rucksack zu packen. Offen, breitgefächert,
motivierend, faszinierend und unterstützend gilt es da, so viele Keime
einzupflanzen wie möglich. Da alle Menschen mehr oder weniger "neutral"
geboren werden, d.h. nicht spezialisiert sind, soll ein grosses Augenmerk
darauf sein, das Kind und die Jugendliche mit so vielen Themen und Tätigkeiten
wie möglich in Berührung zu bringen. Und zwar nicht nur durch vorführen
und erwähnen, sondern durch selber machen lassen.
Auch von der physischen und psychischen Entwicklung her ist der Mensch
so organisiert, dass er in dieser Zeit am schnellsten etwas durchschauen
und begreifen kann. Das hilft, wenn man so viel anzuschauen vorhat!
Von aussen her ist da unter anderem natürlich sorgfältig mit
der Pubertät umzugehen. Ich glaube, dass die dabei überwichtige
Offenheit und Transparenz auch hilft beim verhindern eines Abdriftens in
kontraproduktive Lebensumstände. Wobei letztere jegliche prägende
Einflüsse durch andere Menschen und Ideen sein können. Seien das Gleichaltrige,
Gedankenstrukturen, Ideologien oder Sekten.
In dieser Zeit ist neben der möglichst breiten "Vorbereitung aufs
Leben" auch sehr wichtig, dem Menschen Feedback zu geben. Aufmunterndes
bei Schwierigkeiten, und lobendes bei Erfolg
oder Leichtigkeit. Auf dass der Mensch sich dann langsam auch dessen bewusst
werden kann, was für Qualitäten ihn speziell ausmachen, wofür
er hier ist. Dass er seine eigene Persönlichkeit erfährt, seinen
eigenen Charakter spüren kann.
In dieser Phase sollte sich die Person sehr stark davon leiten lassen,
was sie interessiert und was sie noch nicht oder noch nicht gut genug kann.
Und nicht sich auf den Lorbeeren derjenigen Tätigkeiten, die sie ohnehin
schon beherrscht, selbstgefällig ausruhen.
Die dritte Phase: Das Liefern
Die Hauptphase, die aktive Wirkungsphase des Menschen in seiner Welt reicht
von seinem Eintritt ins Arbeitsleben bis ungefähr zum Ausscheiden aus
demselben. Den Startschuss in diese Phase muss ein Kippen der zuletzt erwähnten
Aussage der vorherigen Phase auslösen. Nun geht es nämlich darum,
die Lorbeeren hervorzuholen! Das zu tun, was man gut und mit Leichtigkeit
konnte!
Denn der relevante Unterschied zwischen Lern- und Lieferphase ist das Arbeitsumfeld: während
in der ersteren alles um den Lernenden angeordnet ist und er sozusagen seine
Trockenschwimmübungen absolviert, befindet sich der Leistende ganz unvermittelt
im kalten Wasser. Wo er sich also vorher voll auf sich selbst und seine Tätigkeit
hat konzentrieren können, kommt nun schlagartig die ganze restliche
Welt als ein kritisches und forderndes Gegenüber noch dazu!
Die ganze Herausforderung in dieser Zeit besteht daraus, sich in das Gefüge
dieser Welt voll und ganz einzuspannen und so effektiv wie möglich zu
wirken. Spätestens hier kommt man dazu, sich zu realisieren, d.h. all
das gelernte - sowohl fachlich wie auch seelisch wie auch Weltanschauungsmässig
- in die Welt einzubringen. Und dazu beizutragen, dass die Welt sich im
beeinflussbaren Ausmass in die erwünschte Richtung entwickelt.
In diese Phase kommt nun auch das Kinder haben und Kinder erziehen, für
welches natürlich exakt das gleiche gilt. Erstens kommen die jetzt auch
in die "erste Phase", und zweitens kann man an und mit ihnen und durch sie
eine neue Welt verwirklichen.
Der Mensch in der dritten Phase gehört beobachtet, bewundert, unterstützt
und kritisiert und in Frage gestellt von den ihn umgebenden.
Wo sich in der vorhergehenden ganz langsam ein Anfang von Wissen angebahnt
hatte, schleicht sich jetzt über die Jahre die Weisheit ein.
Die vierte Phase: Das Weitergeben
Ist man nicht mehr arbeitsfähig oder hat man das Alter erreicht,
wo einem die Gesellschaft die Ruhe gönnt, fängt der letzte Abschnitt
an.
Man ist durch das Leben gegangen und hat alles gesehen was einem das Schicksal
bis dann beschert hat. Man hat am meisten erlebt von allen und hatte für
vieles davon schon einige Zeit zum Verdauen.
Man trägt einen grossen Schatz an Erinnerungen und Lektionen und
Weisheiten mit sich, den es nun zu verteilen gilt. An diejenigen, denen man
es gönnt, und an diejenigen, die einen darum bitten.
Bestenfalls gibt es ja inzwischen schon Kinder, die in der zweiten und
dritten Phase sind, und Enkel, die sich in einer der ersten beiden Phasen
befinden. All diesen kann man das Leben nun erhöhen, bereichern, relativieren
und erleichtern, indem man ihnen von dieser Weisheit mitgibt. Es kommt zugleich
die Zeit des Abschieds und der Verewigung.
Diesen Leuten gehört aller Respekt. Und Unterstützung und Nachsicht und Geborgenheit.
Zum Schluss
Vielleicht sind das ja nicht die Phasen des Lebens. Doch ist es
ein Ausdruck meiner Einstellung zum Leben und zu meinen Mitmenschen und meinen
Plänen und meiner Vergangenheit. Ich frage mich, ob man nach dieser
Lektüre spürt, was für eine riesengrosse Freude ich am Leben
habe. Wie ich mich freue auf alle Alter, wie ich mich freue, dass unser Aufenthalt
im Leben so schön gestaltet worden ist.
Anzumerken ist sicher noch, dass viele der Aspekte und Aktivitäten,
die in einer Phase erwähnt wurden, sich natürlich auch durch die
andern ziehen können, und das die Phasen viel mehr fliessend ineinander
übergehen, als ich das ausgedrückt habe.
© 2002-2004 Luzi Schucan-Wernli | kugelfisch@gmx.net
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