[01.07.2005]

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Kybernetik

Tools zum gesunden Menschenverstand: System, Verbindung und Zweck

In Diskussionen erwähne ich es oft, und in Texten hier auf dem Kugelfisch kam es bisher auch schon vor: das Gerede von Komplexität, Varietät, Systemen, Zielen, oder kurz ausgedrückt: Kybernetik. Es sind Konzepte, die in der heutigen Welt zwar sehr selbstverständlich sind, aber meines Wissens nicht vielen Leuten so klar bewusst sind. Ich selber bin erst über das hier besprochene Buch von Stafford Beer auf die nötige Terminologie gestossen und möchte in diesem Artikel also eine "Management Summary" hinlegen. Dieser Aufsatz soll - wie die Rubrik es andeutet - die Idee weitergeben. Er hat nicht den kleinsten Originalitätsanspruch, und für weiteres Detailinteresse gibt es nur einen grossen Verweis auf Ross Ashby, Frederic Vester und Stafford Beer.

Die Kybernetik ist die Lehre der Kontrolle über (komplexe) Systeme. Wende ich sie auf "einfache" Systeme an, so entspricht sie dem "gesunden Menschenverstand". Sie kann also sozusagen als Ausweitung desselben auf nicht intuitiv erfassbare Dimensionen betrachtet werden. 

Sitze ich mit einem Fell bekleidet in einer Höhle, habe ich dafür zu sorgen, dass ich nicht erfriere, verhungere oder verdurste, und bestehen meine Werkzeuge aus einem Faustkeil, einem Knochen und einem Speer, so sind meine natürlich gegebenen, physisch vorhandenen (Sinnes-)Organe völlig ausreichend, und die Folgen meiner Aktivitäten erscheinen mir offensichtlich. 

Bin ich jedoch Abteilungsleiter und kündige ich vier Fliessbandarbeitern die Stelle, setze ich als Biologe Organismen mit künstlich (von mir) verändertem Erbmaterial im nächstgelegenen Wald aus oder beschliesse ich als Staatspräsident eine umfangreiche Steuersenkung, so entgleiten tendenziell sämtliche Folgen meinem direkten, physischen Empfinden. Ausser eine der Entlassenen läuft Amok und bringt mich um, aus den Organismen werden zufälligerweise sich schnell vermehrende, aggressive und für den menschlichen Körper schädliche Bakterien, welche mich beim nächsten Spaziergang befallen oder ich muss beim nächsten Erdbeben realisieren, dass die verkehrstechnische Erschliessung meiner Ferienresidenz nicht mehr durch Steuergelder finanziert werden kann und ich somit ab jetzt mit meinem ganzen Gepäck eine Stunde unterwegs bin, um das Schlösschen zu erreichen. So schlägt die Kybernetik zu wenn wir sie bei unserem Handeln nicht berücksichtigen. 

Diese Einführungsbeispiele sollten unterstreichen, dass die Kybernetik ganz klar ein Kind der Neuzeit ist. In diesem Sinne war vielleicht der "Fortschritt" ein Schritt fort von einer gänzlich durch Sinnesreize kontrollierbaren Welt. Und so glimmt die Wichtigkeit auf, sich mit diesem vielleicht seltsam anmutenden Thema zu befassen.

Das System

Am Anfang steht das System. Ein System ist ein beliebiges Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile, und dessen Identität sich verändert, wenn eines derselben entfernt oder mit einem andern vertauscht wird. Eine Menge von Untersystemen, welche sich so organisieren, dass daraus ein Mehrwert entsteht. Eine Zelle, ein natürlicher Organismus, ein Mensch, eine Abteilung, eine Firma, eine Nation, die Welt. Und natürlich ist jedes System selbst Teil eines "Übersystems" und Herberge von "Untersystemen".

Für diese Betrachtungen gibt es nun eine (einzige?) Eigenschaft des Systems, die von ultimativer und fundamentaler Bedeutung ist: die Varietät. Die Varietät könnte man eigentlich auch Komplexität nennen, ausser dass der zweite Term vielleicht schon zu stark mit Vorurteilen oder Bedeutungen beladen ist. Nehmen wir also das neue Wort "Varietät eines Systems" und definieren es als die Anzahl möglicher Zustände des Systems. Es ist eine Zahl, welche je nach Abgrenzung eines Systems und je nach "Messgenauigkeit" ganz unterschiedlich gross sein kann. 

Betrachten wir eine Frau als eine Wählerin einer Politikerin aus fünf Kandidatinnen, so kann man ihre Varietät auf fünf festhalten - oder sechs, falls wir ihr auch die Option einer Stimmenthaltung zubilligen. Betrachten wir sie hingegen als Patientin in der Psychiatrie, wächst die Zahl schier ins Unermessliche. 

Es ist also wichtig, bei künftigen Auseinandersetzungen und Beschreibungen die Systemgrenzen präzise abzustecken. Gleichzeitig macht es das Beispiel fraglich, wem diese Varietät denn nützen soll, wenn man sie ja so beliebig rauf- und runtergeschraubt werden kann. Die Antwort: demjenigen, der sich für die Interaktion zwischen Systemen interessiert. Und das ist der Kybernetiker.

Die Verbindung

Wenn wir die Varietät von zwei interagierenden Systemen beobachten, so geraten wir in die Fänge von "Ashby's Gesetz". Es besagt, dass sich die Varietät zweier interagierender Systeme angleicht. Kommuniziert also ein System mit hoher Varietät mit einem System niedriger Varietät, so wird sich seine Varietät verringern (also Information verlieren), diejenige des anderen Systems vergrössern (also Informationsaufnahmefähigkeit zulegen) oder eine Kombination dieser beiden Möglichkeiten. Und zwar voll automatisch.

Ziehen wir das Beispiel eines Vorgesetzten und seiner sechs Untergebenen herbei, so ergibt sich folgendes Bild: das erste System hat grob gerechnet einen Sechstel der Varietät des zweiten. Der Chef ist ein Mensch, und ein Mensch ist eigentlich dafür gebaut, mit einem Menschen ausführlich umzugehen. Nun würde aber ohne speziellere Vorsicht sämtliche über die naturgegebene Varietät des Chefs hinausgehende naturgegebene Varietät der Angestellten hoffnungslos der "schieren Ignoranz" (so Beer) zum Opfer fallen. Es ist offensichtlich, dass das auf die Dauer nicht angehen kann. 

Das schwenkt unsere Aufmerksamkeit nun unmittelbar auf die eigentliche Aufgabe der aktiven Kybernetikerin, nämlich die Gestaltung von Varietätsdämpfern und Varietätsverstärkern. Es geht nämlich darum, die Angleichung der Varietät zwischen zwei Systemen nicht dem Zufall zu Überlassen.

Manche mögen diese Notwendigkeit beim ersten Umgang mit einem eigenen Mobiltelefon intuitiv festgestellt haben. Ununterbrochen und unabhängig von Ort und Zeit von allen in Echtzeit erreichbar zu sein, ist keine Option. Das wäre der Fall von einem System mit viel zu viel Varietät (dem Mobiltelefon), welches auf ein vergleichsweise simples prallen würde. Also haben diese Leute - jede und jeder auf seine Art - ihre Dämpfer und Verstärker entwickelt. Die einen schalten es z.B. nur selten ein (z.B. in der Strassenbahn - wenn also ihre Varietätsfähigkeit durch nichts sonderlich eingeschränkt ist), um den Anrufbeantworter abzuhören und entsprechend auf Nachrichten zu reagieren, die nächsten machen die Klingeltöne vom Anrufer abhängig, und wieder andere mögen bei jedem Anruf zuerst schauen, wessen Nummer es ist und ob sie diese Person in der gegebenen Situation sprechen oder doch lieber auf den Anrufbeantworter verweisen möchten.

Wenn ich eine Seite im Internet zugänglich mache, so muss ich dafür sorgen, dass Gedanken, welche durch das Konsumieren derselben entstehen, gleich an mich zurückgefüttert werden können. Das kann ein Kontaktformular, eine E-Mail-Adresse oder ein sonstiges Set Koordinaten sein.

Wenn man nun aber vor einer weniger offensichtlichen Verbindung von Systemen steht, kann folgendes Problem auftauchen: Es könnten ziemlich unterschiedliche Dämpfer eingesetzt werden, um die gegebene Varietätsreduktion zu bewerkstelligen. Im Beispiel mit dem Mobiltelefon wurden oben deren drei erwähnt. Wo soll sollen wir nun eine Entscheidungsgrundlage finden?   

Der Zweck

Genau so, wie wir es im Zusammenhang mit Systemen gesehen haben, dass deren klare Definition und Abgrenzung fundamental wichtig ist, bestimmt die klare Definition und Abgrenzung des Zwecks die Bedingungen an die Varietätsdämpfer und -verstärker und somit deren Konstruktion. 

Im Beispiel des Mobiltelefons kann anfangs direkt der Grund für die Anschaffung des Gerätes als Zweck genommen werden, und die Entscheidung für einen der erwähnten oder gar einen anderen Varietätsdämpfer daraus hergeleitet werden. Ist man also auf Pikett und muss man innerhalb weniger Minuten notfallmässig antreten können, so wird man das Telefon sicher nicht auf stumm schalten. Ist man hingegen Schriftsteller und bekommt höchstens mal einen Anruf von einem Kollegen, um sich am Wochenende wieder mal zu treffen, so reicht das Gerät in seiner Funktion eines Anrufbeantworter-Abhörers vollständig aus - oder hat es in diesem Fall schon seinen einzigen Zweck als Umsatzvergrösserer für den Hersteller und die Vertreiber erfüllt?

Wenn ich Abteilungsleiter bin, ist es relativ uninteressant, von jedem Untergebenen nur zu wissen, was seine Fehler sind. Dieser Dämpfer würde nur den Zweck (der Abteilung) erfüllen, dass wir uns unserer Fehler bewusst sind, und dass wir wissen, was wir schlecht können. Der begrüssenswertere Zweck wäre, zu wissen, wo unsere Stärken liegen und was wir bieten können. Also wäre der Dämpfer "Was sind die Stärken jedes Mitarbeiters?" viel angebrachter.

Insbesondere in diesem Punkt habe ich persönlich schon mehrmals den unabschätzbaren Wert von schriftlicher Dokumentation erlebt. Dann nämlich, wenn in der Hitze des Gefechts die aktive Erinnerung an den eigentlichen Sinn der Aktion unterzugehen droht, und man sich einfach durch nachschlagen oder -lesen wieder auf die eigentliche Sache einmitten kann.

Zusammenfassung

Wollen wir - die wir ja eben in der eingangs erwähnten immer komplexeren Welt zurechtkommen sollten - die Kybernetik zu unseren Gunsten anwenden, so können wir wie folgt auf fast sämtliche Herausforderungen zugehen:

  1. Welche Systeme sind involviert? Klare Definition und Abgrenzung der Systeme, möglichst präzise relative Abschätzungen der jeweiligen Varietät oder Komplexität.
  2. Was ist der Zweck des Ganzen? Klare Definition und Abgrenzung des Zieles, der Existenzberechtigung der ganzen Angelegenheit, möglichst schriftlich festzuhalten.
  3. Was sind die für das betrachtete Ganze relevanten Verbindungen zwischen den Systemen? Wie stehen sich die Varietäten gegenüber? 

Sind diese Vorbereitungen erfüllt, so kann die eigentliche Verbesserung in Angriff genommen werden: die Definition der Varietätsdämpfer und der Varietätsverstärker.

Ich bin sicher, dass jede Leserin dieses Artikels aus dem Stegreif drei Beispiele geben kann, anhand derer diese Zusammenhänge zwischen Systemen, Verbindungen und Zweck ersichtlich werden, und in denen danach die vorhandenen Varietätsdämpfer und -verstärker ziemlich treffend beurteilt werden können.

Und so (gehts) weiter

Wie am Anfang erwähnt, ist all dies nur ein Versuch einer Aggregation von Gedankengut, das entweder direkt aus Büchern der erwähnten Leute stammt oder das in mir durch dieselben konkretisiert wurde.

Die Kybernetik wurde meines Wissens von Norbert Wiener in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts getauft.

Bekannt wurde die Kybernetik durch Frederic Vester, der sie vor allem auf die ökologie anwendet ("Lernen, Denken, Vergessen"), und durch Stafford Beer ("Brain of the Firm" und "The Heart of Enterprise"), der sie auf Management und Organisation angesetzt hatte. Auch Fredmund Malik und andere Protagonisten der St. Galler Management-Modells basieren ihre Arbeit auf den Konzepten der Managementkybernetik.

Mir ist nur vom Hörensagen bekannt, dass diese Konzepte auch schon im Softwaredesign zur Anwendung kamen (doch offensichtlich nur sehr selten...).

Für andere Hinweise auf weitere Einsatzgebiete der Kybernetik oder auch Beispiele zu dem oben Beschriebenen bin ich dankbar.


© 2002-2004 Luzi Schucan-Wernli | kugelfisch@gmx.net



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