[01.07.2005]

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IBICABA Das Paradies in den Köpfen

Eveline Haslers Rekonstruktion eines Auswandererzuges Schweiz-Brasilien

Die effektvolle Kolonialisierung des Rests der Welt durch die Mittel- und West-Europäer hat uns und der Zukunft dieses Planeten die Marschrichtung zu einem grossen Teil zugewiesen. Sie kann und muss oft als Argument für allerlei herhalten. Es geht dabei oft um eigentlich abstrakte Sachverhalte wie Missionierung, Völker-Ausrottung, die dominante Gesellschaftsform, Kultur-Clash und anderes.

Darob gerät viel konkretes Vergessen. Der menschliche Aspekt, die Beweggründe und Bürden, die ein einzelner konkreter zeitlich (die Dauer eines Menschenlebens) und örtlich (die Ausdehnung eines menschlichen Organismus') beschränkter Mensch hat resp. sich aufbürdet, um Teil dieser "Kolonialisierung" zu sein, verbleicht fast ob all der "historisch relevanten Fakten" wie Schlachtdaten, Entdeckungsdaten, und so weiter.

Eveline Hasler, die mit "Anna Göldin. Letzte Hexe" bekannt wurde, hat nun die vorhandenen Dokumente über einen Auswandererzug von 1855 aus dem Bündnerland nach Brasilien in all seinen Details nachgezeichnet. Es geht von der dichten Beschreibung des Lebens "zu Hause" in den Schweizer Alpen zu dieser Zeit über die sorgfältige Begleitung auf dem sehr beschwerlichen Weg mit seinen vielen Gesichtern bis zur Ankunft im "Paradies" und der bodenlosen Ernüchterung. Und die ganze Erzählung ist durchwoben mit dem Gedanken an das, was in den Menschen drin vorgeht. Die Hoffnungen, ?ngste und Erinnerungen nehmen in diesem Buch eine ganz wichtige Position ein.

Durch die konsequente Reduktion auf einen ganz konkreten Fall in all seinen Einzelheiten bringt diese Geschichte viel Allgemeingültiges zum Ausdruck und stimmt wiederholt sehr nachdenklich. Es ist ein Porträt von einzelnen Menschen, die in ihrer Heimat in einem grossen allgemeinen Notzustand leben. Die dann einerseits viel Mut beweisen und andererseits relativ leichtgläubig den Profiteuren auf den Leim gehen. Es ist auch eine Erzählung aus einer Zeit, wo Entscheidungen noch absoluter und definitiver und die Welt noch grösser waren als heute. Gleichzeitig kann ich z.B. mich und uns und unsere Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen in dieser Geschichte wiederfinden. Die Konfrontation der Gedanken mit der Realität.

Ganz sachlich betrachtet hat mir die Lektüre dieses Buches ein detailliertes Bild der beschriebenen Zeiten und Orte gezeichnet. Die Widerwärtigkeit des Alltags in den Bergen, der Aufwand langer - aber auch relativ kurzer! - Reisen, die Leiden und Probleme, in komplett unbekanntem Klima, unheimlicher Flora und Fauna durchzukommen.

Mir hilft es zu sehen, dass der Mensch zäh ist, vieles durchsteht und vor allem auch schon durchgestanden hat. Das Buch hat viele Emotionen in meinem Alltag relativiert, mir eine Verbindung in eine andere Zeit für mein Gefühl nutzbar gemacht.

Das Buch ist für diejenigen geschrieben, die sich für die menschlichen und bodennahen Implikationen von geschichtlichen Strömungen interessieren. Das Buch ist auch leicht und angenehm lesbar.

Diese Lektüre hat mich weitergebracht, und ich empfehle sie wärmstens.


© 2002-2004 Luzi Schucan-Wernli | kugelfisch@gmx.net



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